
Reise in den Osten: Neue Reportagen aus der Ukraine
30 Minuten
Heute startet meine Reise in die Ukraine, wo ich dieses Mal erneut für neue aufregende Reportagen unterwegs sein werde. Dabei werde ich euch einen Blick hinter die Kulissen gewähren und zeigen, was hinter den Bildern steckt.
Reisebericht von Raimond Lüppken.
30.08.2025:
Heute Morgen hat meine Reise in die Ukraine begonnen.
Beim letzten Mal in der Ukraine habe ich u.a. das jüdische Quartier von Uman fotografiert, ich war in Pavlograd und ich war im Oblast Donezk und habe die Zerstörung dokumentiert.
Früh morgens um 7 Uhr startete ich von Zürich nach Krakau. Vom Flughafen Krakau fuhr ich mit dem Regionalzug zum Hauptbahnhof und von dort mit dem IC nach Przemyśl. Vom Bahnhof aus ging es mit einem Minibus an die Grenze. Die Grenzüberquerung zu Fuß verlief schnell und unkompliziert – für mich eine bewährte Variante. Auf der ukrainischen Seite wartete ich auf den Minibus nach Lviv, wo ich für die erste Nacht ein Hotelzimmer gebucht hatte.
Während ich auf den Minibus wartete, schrieb mir eine Freundin aus Odessa, dass in Lviv, wohin ich ohnehin unterwegs war, am gleichen Tag Andrii Parubii, der ehemalige Sprecher des ukrainischen Parlaments, erschossen worden sei. Ich beschloss spontan herauszufinden, wo genau der Tatort liegt. Über Social Media fragte ich einen Bekannten aus Lviv, der die Nachricht bis zu meiner Ankunft in der Stadt, allerdings noch gar nicht gelesen hatte.
Komplette Bildserie: Von Krakau nach Lviv
In Lviv angekommen, fragte ich die Rezeptionistin meines Hotels. Sie sagte, der Tatort sei nur etwa zehn Minuten zu Fuß entfernt. Also stellte ich mein Gepäck ins Zimmer, nahm die Kamera aus dem Rucksack und machte mich direkt auf den Weg.
Komplette Serie: Tatort der Ermordung von Andrii Parubii in Lviv
31.08.2025:
Nach meiner ersten Nacht in der Ukraine, in Lviv, fuhr ich heute mit dem Zug nach Odessa – eine Reise von 10 Stunden und 50 Minuten.
Es war erstaunlich zu sehen, wie viel trotz des Krieges in die Eisenbahn investiert wird. An vielen Streckenabschnitten waren Bauarbeiten im Gang, Gleise wurden erneuert, Arbeiter setzten Schiene für Schiene.
Am Abend in Odessa besuchte ich ein Festival im Innenhof und Garten der Bibliothek, das sich der Geschichte und Kultur der Krim-Tataren widmete – ein eindrücklicher Auftakt für meine Tage am Schwarzen Meer.
Komplette Serie: Zugfahrt von Lviv nach Odessa
01.09.2025
Nach der langen Zugfahrt kam ich erst spät in Odessa an, und der Ankunftstag war schnell vorbei. Den ersten vollen Tag verbrachte ich fast ausschließlich draußen.
Morgens am Strand beobachtete ich das Strandleben, machte Fotos und tauchte kurz ins Meer ein. Am Nachmittag führte mich mein Weg zum Kujalnyk-Liman, einem Salzsee ausserhalb der Stadt. Die Salzkruste knirschte unter den Füssen, das Licht der tiefstehenden Sonne färbte das Wasser in leuchtende Nuancen, und eine fast surreale Ruhe legte sich über den Ort.
Komplette Serie: Der Salzsee Kujalnik-Liman
Kein Wunder, dass der See ein beliebter Fotospot ist, besonders bei Sonnenuntergang. Für mich war es ein stiller, intensiver Moment, ein Naturschauspiel, das den Tag unvergesslich machte.
02.09.2025
Heute war ich mit einem Soldaten der ukrainischen Navy unterwegs und startete den Vormittag beim City-Day-Event in Odessa, der Feier zum Stadtjubiläum. Dort waren das Navy-Musikkorps und die Feuerwehr von Odessa präsent. Der Bürgermeister hielt eine Rede, und auch die ehemalige Bundestagsabgeordnete und Osteuropa-Expertin Marieluise Beck ( Bündnis 90 / Die Grünen ) war vor Ort. Ich nutzte die Gelegenheit und schoss viele Fotos.
Komplette Serie: Event anlässlich des City Day (Stadtjubiläum)
Danach besuchten wir das Rekrutierungsbüro der 39. Navy-Brigade.
Komplette Serie: Konzert des Kalush Orchestra in Odessa
Später am Tag folgte das Hauptevent des City Day: Auf der Bühne spielte das Kalush Orchestra, Gewinner des ESC 2022.
03.09.2025:
Mein letzter kompletter Tag in Odessa. Heute traf ich im Haupt-Rekrutierungsbüro der ukrainischen Navy eine Soldatin. Seit 2017 dient sie in der Armee; ab Dezember 2021 war sie in Mariupol stationiert und blieb dort, als die Großinvasion begann. Während der Belagerung geriet sie in russische Gefangenschaft – zuerst in einem berüchtigten Lager Olenivka, in den besetzten Gebieten(Donetsk), später wurde sie nach Russland gebracht. Bei einem Gefangenenaustausch kam sie frei. Seit ihrer Freilassung arbeitet sie im Rekrutierungszentrum.
Sie erzählte von physischer und psychischer Folter und von den Spuren, die bis heute bleiben. Auf meine Frage, wie es für sie sei, darüber zu sprechen, meinte sie, dass es ihr guttut – das Reden selbst sei Teil der Therapie. Während sie sprach, spürte ich meine eigene Anspannung: Das Bedürfnis, jede Regung aufmerksam wahrzunehmen, vorsichtig zu bleiben, Grenzen nicht zu überschreiten. Solche Begegnungen verlangen mehr Zuhören und Beobachten als Fragen.
Neben ihrer Arbeit studiert sie heute Management im Tourismussektor – anknüpfend an ihre frühere Tätigkeit im Hotelfach – und zusätzlich Psychologie. Ihr Ziel ist es, Militärpsychologin zu werden. Denn die Wunden dieses Krieges sind nicht nur im Land sichtbar, sondern auch tief in den Seelen der Menschen, die ihn durchlebt haben.
Komplette Serie: Odessa 3. September 2025
Nach dem Interview besuchte ich noch kurz den Veteranensportverein “Freie Krieger” beim Bogenschießen und verbrachte anschließend den letzten Abend in Odessa am Strand.
04.09.2025:
Früh am Morgen stieg ich am Bahnhof Odessa-Holovna in den Zug. Neun Stunden Zugfahrt nach Kiew lagen vor mir – und ich hatte schon befürchtet, dass es eine lange, mühsame Strecke wird.
Stattdessen saß mir eine junge Ukrainerin mit ihrem Sohn gegenüber. Die beiden waren unterwegs, um den Vater in Kiew zu besuchen, der in der Armee dient. Wir kamen sofort ins Gespräch und redeten die ganze Fahrt über. Die Stunden vergingen wie im Flug.
Komplette Serie: Reise von Odessa nach Kyiv
Um exakt 15.20 Uhr rollte der Zug in Kiew ein. Ein Taxi brachte mich direkt ins Hotel, wo ich nur schnell meinen Rucksack abstellte. Viel Zeit zum Durchatmen blieb nicht: Ich musste gleich weiter zu einem Ort, an dem meine Schutzausrüstung auf mich wartete.
Danach ging es ohne Umwege zu einer Militäreinheit. Dort stand ein wichtiges Gespräch zur Planung meiner nächsten Tage auf dem Programm.
Mehr kann ich aus Sicherheitsgründen nicht verraten. In den kommenden Tagen werde ich nur kurze Beiträge veröffentlichen – oder auch einfach einmal ein Foto als Lebenszeichen. Einzelne Bilder werde ich so auswählen, dass sie aufgrund von Landschaftsstrukturen oder Hintergründen nicht lokalisierbar sind.
Sowohl das Interview mit der ehemaligen Kriegsgefangenen, das ich in meinem Blogbeitrag vom 3. September beschrieben habe, als auch die Reportage, die aus dem Material der kommenden Tage entstehen wird, sind von höchster Relevanz und sollten für Redaktionen von Interesse sein.
05.09.25:
Zwischen Kiew und Dnipro
Eine längere Zugfahrt stand an. Um 6.32 Uhr verließ ich den Hauptbahnhof in Kiew, um 12.40 Uhr erreichte ich Dnipro. Bis mich die Gruppe der Cultural Forces um 17.00 Uhr abholen konnte, hatte ich einige Stunden Zeit.
Ich ging in ein armenisches Restaurant, aß dort ein Drei-Gänge-Menü, trank ein Bier und nutzte die Zeit, um am Computer meine Bilder zu bearbeiten. Gegen 14.00 Uhr hörte ich eine Explosion. Sie war nicht besonders laut, doch kurz darauf waren Sirenen von Einsatzfahrzeugen zu hören.
Komplettes Angebot: Drohnenangriff auf Dnipro
Um 15.00 Uhr verließ ich das Restaurant und ging in Richtung einer tiefschwarzen Rauchwolke. Von einer leicht erhöhten Position aus konnte ich das brennende Industriegebiet sehen und einige Fotos und Videos machen. Währenddessen hörte ich weitere Detonationen. Ob diese von Second- oder Third-Strike-Angriffen stammten, wie die Russen oder Terrorregimes sie gerne machen, oder ob in dem brennenden Industrieareal Gasflaschen oder anderes Material explodierten, kann ich nicht sagen. Bislang gibt es dazu keine offiziellen Informationen.
Um 17.00 Uhr holte mich die Gruppe der Cultural Forces ab. Wir fuhren zum recht modernen Yacht-Club von Dnipro. Dort trafen wir auf eine andere Gruppe der Cultural Forces und es begann die Musik. Zuerst sang eine sechsköpfige Männergruppe A-Cappella Klassiker wie Wonderful World oder Yesterday. Einige von ihnen erzeugten Bass- und Rhythmuseffekte allein mit ihren Stimmen, was den Auftritt unglaublich lebendig und fesselnd machte.
Komplette Serie: Cultural Forces Konzert in Dnipro
Dann spielte die Gruppe, mit der ich die nächsten Tage unterwegs sein werde. Sie kombinierten klassische ukrainische Instrumente mit akustischer Gitarre und Bass. Die Musik war voller Energie, überraschender Harmonien und kraftvoller Rhythmen – ein Erlebnis, das mich tief berührte und noch lange nachhallte. Dazu gab es Essen, Bier und Wodka, und die Atmosphäre war warm, offen und intensiv.
Erst gegen 21.00 Uhr machten wir uns auf den Weg zum Nachtlager in einem Dorf etwa eine Stunde östlich von Dnipro, bereit für die kommenden Tage voller Musik, Begegnungen und Fotografie.
06.09.2025:
Tag 1 auf Tour mit den Cultural Forces
Um 11 Uhr starteten wir an diesem Tag mit der vierköpfigen Gruppe der Cultural Forces. Es stand nur ein Konzert auf dem Programm; ein zweites Konzert, das ursprünglich geplant war, musste aus strategischen Gründen abgesagt werden. Unsere kleine Reise führte uns Richtung Front, dorthin, wo Musik für einen Moment die Härte des Kriegsalltags verdrängen kann.
Als wir im Camp der 32. Brigade ankamen, begannen die Musiker sofort, ihre Instrumente aufzubauen. Unter einem Tarnnetz, durch das die Sonne helle Flecken auf Gesichter und Uniformen warf, richteten sie die Gusle, Bassgitarre, Cajón und Konzertgitarre. Rund 35 Soldaten hatten sich bereits versammelt. Anfangs herrschte eine gewisse Zurückhaltung, die Stimmung war abwartend, fast angespannt.
Die Band begann mit zwei Musikstücken. Die Soldaten hörten aufmerksam zu, einige klopften vorsichtig mit, andere beobachteten nur. Dann nahm Mikhailo die Gusla zur Hand und spielte Nothing Else Matters von Metallica. Sofort veränderte sich die Atmosphäre: Aufhorchen, ein Lächeln, ein rhythmisches Klopfen, kurze verstohlene Blicke. Das Eis war gebrochen, und die Spannung wich einer spürbaren Nähe.
Im weiteren Verlauf des Konzerts wurden auch andere traditionelle ukrainische Instrumente vorgestellt und mit modernen Instrumenten wie Bassgitarre, Cajón und Konzertgitarre kombiniert – die Spezialität der Gruppe. Alle vier sind Multi-Instrumentalisten; für gewisse Stücke arrangieren sie die Verteilung der Instrumente anders, so dass jede Kombination neue Klangfarben erzeugt. Damit entsteht ein lebendiges, überraschendes Geflecht aus Tönen.
Am Ende des Konzerts legten die Musiker wie gewohnt einen Stapel Bücher aus. Ein junger Soldat blätterte neugierig in einem Roman, ein älterer griff zu einem Geschichtsbuch. Das Projekt Bücher für die Front ist längst ein fester Bestandteil der Cultural Forces: In ukrainischen Buchhandlungen gespendete Bücher finden auf diese Weise direkt ihren Weg an die Front.
Nach dem Konzert gab es etwas zu essen. Frisch gestärkt machten wir uns auf die Rückfahrt. Die Strecke führte durch sehr schöne, einfache Dörfer, deren Häuser in der Spätsommersonne warm leuchteten. Auch landschaftlich war die Fahrt eindrucksvoll: Felder, sanfte Hügel und Wälder wechselten sich ab, während wir die Musik des Nachmittags noch nachklingen ließen.
Am Abend entzündeten wir im Garten ein Feuer. Der Rauch stieg in die Dunkelheit, Funken sprühten kurz auf und verglühten. Das Knistern der Flammen mischte sich mit Stimmen und Gelächter. Der Duft von gegrilltem Fleisch und Fisch legte sich schwer in die Luft, begleitet vom rhythmischen Klirren von Geschirr. Zwischendurch wurde gesungen – mal ein ukrainisches Lied, mal ein kurzes Motiv, das einer anstimmte und die anderen aufnahmen.
Es ist typisch für die Cultural Forces: Musik gehört nicht nur auf die Bühne. Sie singen auch, wenn sie zusammensitzen, beim Essen, manchmal sogar während der Fahrt. Musik ist ihr ständiger Begleiter, fast wie eine zweite Sprache.
Während wir aßen, kam das Gespräch auf die Bandura – das klassische ukrainische Instrument mit über 60 Saiten, das in dieser Gruppe aber niemand spielt.
„Arthur“, fragte ich, „wie lange braucht man eigentlich, um eine Bandura zu stimmen?“
Er grinste und antwortete trocken: „Das halbe Leben eines Banduraspielers. Und die andere Hälfte spielt er auf einer ungestimmten Bandura.“
Gelächter ging rund um das Feuer. Es war dieser feine Humor, der den Abend so besonders machte – trotz allem, was draußen jenseits des Gartens geschah.
Und es gab gleich zwei Gründe zu feiern: Für Mikhailo war es der erste offizielle Tag als Mitglied der Cultural Forces. Und genau ein Jahr zuvor hatte die Gruppe dieses Haus bezogen – ein Haus, das längst mehr ist als nur Unterkunft, sondern ein Ort der Gemeinschaft, der Hoffnung und der Rückkehr nach langen Tagen.
Und jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, hallen aus dem Haus die nächsten Klänge: Die Band probt schon wieder. Musik, die nie stillsteht.
07.09.2025:
Sonntag, 7. September 2025 – Zweiter Tag unterwegs mit der Band Joryj Kloc der Cultural Forces
Am zweiten Tag mit den Cultural Forces begann unser Programm bereits um acht Uhr morgens. Eine weite Fahrt lag vor uns, denn gleich zwei Konzerte bei der 156. Brigade standen auf dem Plan. Das Wetter war großartig, die Stimmung entsprechend gut. Unterwegs legten wir einen kurzen Zwischenhalt ein, tranken Kaffee – und schon bald erreichten wir den ersten Zielort.
Dieser erste Halt führte uns zu einem Außenposten der 156. Brigade, an dem rund zwölf Soldaten stationiert waren. Das Konzert war für die kleine Truppe ein besonderes Ereignis. Die Freude der Soldaten war spürbar, und im Anschluss wurde wie üblich eine Sammlung von Büchern ausgelegt. Die Bücher, die die Cultural Forces immer dabei haben, breiten sie – je nach Gegebenheit – auf einem Tisch, auf dem Boden, auf Bänken oder wie in diesem Fall einem Bettgestell. So konnten sich die Soldaten etwas Passendes aussuchen und nutzten die Gelegenheit, sich mit den Musikern zu unterhalten.
Danach ging es weiter zur zweiten Station, die wir pünktlich zum Mittagessen erreichten. Es handelte sich um ein Trainingscamp der Brigade. Nach der gemeinsamen Mahlzeit begann das Konzert, das auf große Resonanz stieß. Die Soldaten saßen auf dem Boden an einem Hang zwischen jungen Bäumen und genossen die Musik als willkommene Abwechslung zum Trainingsalltag. Auch hier wurden nach dem Konzert wieder Bücher ausgelegt, und es entstand ein großes Gruppenfoto mit den Musikern. Besonders in Erinnerung blieb mir ein Soldat, der sich von Anton – dem „Commander“ der Band, wie sie scherzhaft sagen – eine persönliche Widmung ins ausgewählte Buch schreiben ließ.
Die Rollen innerhalb der Gruppe sind klar verteilt: Arthur fährt fast immer, Anton hat das Sagen, und Viachek kümmert sich um die Bücher. Er organisiert regelmäßig Nachschub, indem er in größeren Städten Spendenbücher einsammelt oder mit den gespendeten Geldern neue auswählt. Neu dabei ist Mikhailo. Noch hat er keine feste Aufgabe, doch er bringt sich auf seine Weise ein: Er kocht gerne, ist von ruhiger Art und fällt nicht durch viele Worte auf – aber wenn er etwas sagt, dann ist es pointiert, humorvoll und oft überraschend klar. Man merkt ihm an, dass er als Künstler eine ausgeprägte Beobachtungsgabe besitzt und zugleich analytisch denkt.
Komplettes Angebot: Cultural Forces spielen Musik für Soldaten in der Ukraine
Am späten Nachmittag traten wir die Rückfahrt an und erreichten unser Quartier erst in der Dämmerung. Da es Sonntag war und wir wussten, dass der Montag frei sein würde, saßen wir abends noch lange beisammen. Es wurde spät, fast Mitternacht, bis ich ins Bett kam. Die Nacht selbst war jedoch unruhig: Mehrfach heulte die Sirene direkt neben unserem Haus auf und riss uns aus dem Schlaf.
08.09.2025
Montag, 8. September
Der Montag war für uns so etwas wie ein Sonntag. Nach den beiden Tourtagen am Wochenende stand kein Konzert an. Trotzdem brach ich frühmorgens mit Anton zu einem nahegelegenen Fluss auf. Er holte das Schlauchboot aus seinem Geländewagen, pumpte es auf, und wir fuhren ein Stück auf dem Wasser. Wir sahen Schwäne, ein Schilfufer, alles war ruhig. Eine kurze, entspannte Fahrt über den Fluss.
Auf dem Rückweg kamen wir durch ein Dorf, in dem sich viele Menschen mit ukrainischen Flaggen versammelt hatten. Ich erfuhr, dass es sich um die letzte Heimkehr eines gefallenen Soldaten handelte. Ich wollte das festhalten. Anton hatte einen Termin, also blieb ich allein zurück.
Das ganze Dorf stand entlang der Hauptstraße mit Fahnen und Blumen. Der Konvoi mit dem Sarg fuhr durch das Dorf bis zum Haus der Familie. Die Menschen folgten und versammelten sich dort. Zwei orthodoxe Geistliche beteten mit der Familie, die weinend um den Sarg stand. Erst zögerte ich das Grundstück zu betreten. Dann tat ich es doch. Niemand störte sich daran. Auf einem Tisch, neben dem Hauseingang, war das Bild des Soldaten aufgestellt, umgeben von vielen Blumen. Auch davon machte ich eine Aufnahme, bevor ich mich wieder zurückzog. Zum Schluss fotografierte ich noch die Blumen, die hinter dem Konvoi auf die Straße geworfen worden waren.
Komplettes Angebot: Ostukraine: Dorf trauert um getöteten Soldaten - von Raimond Lueppken
Für die Rückfahrt hatte ich Glück: Jemand nahm mich direkt am Dorfausgang mit bis zum Haus der Band. Kurz darauf kam auch Anton von seinem Termin zurück. Viachek war im Haus geblieben, wir unterhielten uns, ich zeigte den beiden die Fotos von der letzten Heimkehr. Mikhailo und Arthur waren in die nächste Stadt gefahren, um Lebensmittel und Benzin zu besorgen.
Komplette Serie: Besuch des Mavrinsky Maidan
Am Nachmittag beschlossen Anton, Viachek und ich, zum Mavrinsky Maidan zu fahren – eine alte, menschengeformte Hügelanlage, die aus der Vogelperspektive wie eine Krabbe wirkt. Ich versuchte, die Struktur fotografisch darzustellen, auch wenn man den Überblick eigentlich nur aus der Luft bekommt. Drohnen sind im Krieg jedoch für Zivilisten verboten.
Komplette Serie: Idyllischer Fluss in der Region Pavlograd
Später fuhren Anton, Viachek und ich noch zu einem idyllischen Fluss, machten dort ein paar Aufnahmen und kehrten schließlich wieder zum Haus der Band zurück.
Später kehrten Mikhailo und Arthur zurück und die Band probte. Ich ging in den Garten um Fotos zu bearbeiten.
09.09.2025
Mein letzter Tag mit den Cultural Forces
Es stand nur ein Konzert auf dem Programm. Trotzdem brachen wir früh auf, denn vor uns lagen mehr als zweieinhalb Stunden Fahrt. Die Straßen waren in einem miserablen Zustand – die Anreise war eine wahre Tortur.
Kurz vor Mittag erreichten wir das heutige Ziel: eine Einrichtung zur Rehabilitation psychisch angeschlagener, traumatisierter Soldaten. Dort waren nur zwei Soldaten in Behandlung, dazu vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ebenfalls zum Publikum gehörten. Das Konzert fand in einem kleinen Therapieraum statt. Aus Sicherheitsgründen musste ich bei meinen Foto- und Videoaufnahmen darauf achten, dass durch die geöffneten Fenster keine Umgebung erkennbar war.
Das Konzert begann dieses Mal ungewöhnlich: Mikhailo eröffnete direkt mit Nothing Else Matters von Metallica, gespielt auf seiner Gusla. Eine eindringliche und zugleich tröstende Interpretation.
Einer der beiden Soldaten lächelte dabei sogar kurz und wippte mit dem Fuß im Takt – ein kleines, unscheinbares Zeichen, das in diesem Raum plötzlich von großer Bedeutung war.
Der andere wirkte sehr still, fast zurückgezogen, als wäre er gleichzeitig da und doch weit weg. Äußerlich ruhig, doch man konnte spüren, dass in seinem Inneren wahrscheinlich viel in Bewegung war. Vielleicht war das Konzert für ihn zu intensiv, vielleicht aber auch genau der Moment, an dem er in sich hineingehört hat.
Nach dem Konzert durften sich die Soldaten Bücher auswählen, auch die Mitarbeitenden griffen zu. Die restlichen Exemplare ließen wir ebenfalls dort – für die nächsten, die in Behandlung kommen werden. Danach bereitete uns einer der Mitarbeiter ein sehr leckeres Essen zu, unter anderem frische Pfannkuchen. Gestärkt machten wir uns wieder auf die beschwerliche zweieinhalbstündige Rückfahrt.
Am frühen Abend, um viertel nach sechs, brachte mich Anton noch zum Bahnhof von Pavlograd. Dort schenkte er mir eine CD seiner Band, die er zusammen mit einer polnischen Gruppe aufgenommen hatte. Ich stieg in den Zug nach Dnipro und dachte unwillkürlich an meine letzte Ankunft dort zurück – an den Angriff, das Feuer und die Unruhe.
Doch an diesem Abend blieb alles ruhig. Gegen zehn Uhr ertönte kurz ein Alarm, dann wurde es wieder still. Ich hatte mir im Hotelzimmer die Fenster geschlossen – eigentlich tue ich das sonst nicht, doch an diesem Abend wollte ich einfach schlafen, egal, ob es Alarm geben würde oder nicht. Und tatsächlich: Ich schlief die ganze Nacht durch. Vielleicht gab es in den Stunden danach noch weitere Alarme, die ich nicht mehr hörte. Aber zum ersten Mal seit Langem war da ein Gefühl von Ruhe – nicht unbedingt in der Welt draußen, aber in mir. Umso deutlicher wurde mir dabei der Unterschied: Während meiner Zeit mit den Cultural Forces stand die Sirene praktisch direkt neben unserem Haus, nur wenige Meter entfernt. Keine einzige Nacht war dort ohne Unterbruch möglich gewesen – selbst mit geschlossenem Fenster. In Dnipro aber war mir eine ganze, ungestörte Nacht geschenkt. Eine stille Nacht, die sich wie ein unerwartetes Geschenk anfühlte – und vielleicht auch wie ein leiser Abschied von diesen intensiven Tagen.
10.09.2025
Die Zugfahrt von Dnipro nach Kiew startete früh, um 6.42 Uhr. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, im Zug ein paar Bilder zu bearbeiten, aber so richtig kam ich nicht in den Flow. Die letzten Tage waren noch so präsent, dass ich kaum einen klaren Gedanken gefasst habe. Nach einer Weile bin ich eingeschlafen, ungefähr eine Stunde. Fotos habe ich auf der ganzen Fahrt fast keine gemacht – erst kurz vor Kiew, als wir schon in die Stadt einfuhren, habe ich dann doch noch die Kamera genommen.
In Kiew angekommen, ging es direkt mit einem Bolt ins Hotel, einchecken, Tasche abstellen. Danach bin ich einfach losgezogen. Ohne Plan, ohne wirkliches Ziel, einfach durch die Straßen laufen und schauen, was passiert. Ich habe fotografiert, ja, aber vieles verschwimmt im Rückblick. Es war der Moment, in dem ich gemerkt habe, wie sehr mich die Tage im Osten gefordert haben. Während man mitten drin steckt, ist man voller Energie, fast getrieben. Aber sobald es vorbei ist, kommt diese Müdigkeit, die Leere – als würde die Spannung plötzlich abfallen und alles Gewicht auf einmal spürbar werden.
Dieser Tag in Kiew war genau so ein Tag: unscharf, bruchstückhaft, mehr ein Zustand als eine Abfolge von Ereignissen. Müde, ziellos, mit den Gedanken noch woanders – und trotzdem mit der Kamera in der Hand, fast aus Gewohnheit.
11.09.2025:
11. September – Reflexion in Kiew
Nach meiner Ankunft in Kiew am Vortag bin ich ziemlich ziellos durch die Straßen geirrt. Der erste komplette Tag auf dieser Rückreise war dann anders: Ich habe ihn genutzt, um zu reflektieren. Nicht nur darüber, was ich auf dieser Reise erlebt habe, sondern auch über all das, was ich insgesamt in der Ukraine schon erlebt habe.
Das erste Mal war ich am 4. März 2022 hier – zehn Tage nach Beginn der Invasion. Danach kam ich im April 2022 zurück, dann im Sommer, und im November desselben Jahres. Die Aufenthalte im Sommer und im November waren sogar ziemlich lang, der im November damals dauerte bis Januar 2023. Insgesamt ist dies nun meine 13. Reise in die Ukraine. Und was ich hier erlebt habe, hat sich tief eingeprägt.
Viele Situationen sind so präsent, dass ich mich nicht nur an die Bilder erinnere, sondern wortwörtlich an das, was gesagt wurde, oder an das, was im Radio lief. Es sind Erinnerungen, so klar und detailliert wie sonst nur wenige Momente in meinem Leben.
Ich habe in Bachmut fotografiert, als die Stadt schon fast vollständig eingekesselt war, mit nur einer verbliebenen Straße hinein und hinaus. Ich war am Massengrab in Butscha. Ich war in drohnenverseuchten Gebieten in der Ostukraine, in anderen umzingelten Städten wie Awdijiwka. In Russland im teilweise von der ukrainischen Armee besetzten Oblast Kursk. Auf meiner letzten Reise im Mai fuhr ich durch Konstantinivka – eine Stadt, die ich von früheren Aufenthalten kannte, diesmal aber menschenleer.
All das ist beeindruckend, erschreckend, prägend. Aber ich habe an diesem Tag auch viel an die Menschen gedacht, die an meiner Seite waren. Begegnungen, die gerade an solchen Orten besonders intensiv sind. Weil man dort nicht mit jedem hingehen kann. Man muss einander vertrauen, wirklich, im wörtlichen Sinn: Man vertraut dem anderen sein Leben an.
Solche Situationen schaffen Bindungen, die weit über das Gewöhnliche hinausgehen. Vertrauen, Sicherheit, Kommunikation – man muss alles klären: Was tut man, wenn etwas passiert? Wie sieht Plan B aus? Wer übernimmt wann die Verantwortung? Man muss aufeinander Rücksicht nehmen, und manchmal auch gemeinsam entscheiden, wann es zu gefährlich ist.
Ich erinnere mich etwa an Situationen mit Kurt Pelda, wo wir unterwegs waren und entscheiden mussten: Fahren wir noch weiter? Wird das zu riskant? Solche Schritte kann man nur zusammen gehen – und nur, wenn beide einverstanden sind. In diesen Gebieten kann einer nicht einfach bestimmen. Alles muss auf freiem Willen beruhen.
Diese Gedanken kamen an diesem Tag in Kiew ganz von selbst, ohne dass ich mir das vorgenommen hatte. Und sie haben mich sehr beschäftigt: Die Orte, die Erlebnisse, die Menschen, die Begegnungen. Zusammengefasst ist es das, was diese 13. Reise für mich bedeutet: ein Rückblick auf all das, was war – und ein Bewusstsein dafür, wie sehr mich diese Erfahrungen prägen.
12.09.2025:
12. September 2025 – Von Kyiv nach Lviv
Wie üblich war ich früh wach und machte eine morgendliche Fotorunde. Dabei fotografierte ich unter anderem die Ausstellung und die temporäre Gedenkstätte auf dem Sophienplatz. Die Eindrücklichkeit der Bilder und die bedrückende Stimmung vor Ort begleiteten mich noch eine Weile.
Um 10 Uhr machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Die nächste Zugfahrt stand an: etwas mehr als sechs Stunden nach Lviv. Die Fahrt war angenehm, und ich unterhielt mich ein wenig mit meiner Sitznachbarin, einer Ärztin, die auf dem Weg über Lviv nach Budapest war.
Leider war auch dies wieder eine Fahrt am Tag. Eigentlich bevorzuge ich in der Ukraine die Nachtzüge. Auch wenn ich dort nicht besonders gut schlafen kann, haben sie den Vorteil, dass ich die Tage voll für das Fotografieren nutzen kann – vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Zudem spart man sich eine Hotelübernachtung. Diesmal waren jedoch sämtliche Nachtzüge auf meinen Strecken ausgebucht. Im Sommer muss man da wirklich weit im Voraus planen.
Am Nachmittag um vier Uhr kam ich in Lviv an. Mit einem Uber fuhr ich zum Hotel, stellte mein Gepäck ab und machte mich direkt wieder auf den Weg. Zuerst ging ich allerdings in ein georgisches Restaurant. Als die Dämmerung einsetzte, zog es mich zum Shevchenko-Platz – ein langer, schmaler Platz, der am Opernhaus beginnt und sich fast einen Kilometer hinzieht. Dort ist abends immer viel los: Strassenmusiker, Menschen, die flanieren, eine besondere Stimmung. Genau das wollte ich fotografisch einfangen.
Zum Abschluss des Tages besuchte ich noch die Safari-Bar, trank zwei Cocktails und machte mich dann früh auf den Weg ins Bett.